Am 14. März 2020 wurden alle Objekte der Bayerischen Schlösserverwaltung geschlossen, „um die vielen Besucherinnen und Besucher (…) bestmöglich vor einer weiteren Verbreitung des Coronavirus zu schützen“; dies betraf natürlich auch Schloss Linderhof. Die Park- und Gartenanlagen waren (und sind) weiterhin für Besucher offen, wobei die allgemeinen Vorsichtsmaßnahmen einzuhalten sind. Schloss Linderhof gehört zu den bayerischen Schlössern, die seit dem 2. Juni 2020 wieder geöffnet sind; wegen der deutlich reduzierten Gruppengrößen ist mit erheblichen Wartezeiten zu rechnen. Auch die Anzahl der zur Verfügung stehenden Parkplätze ist erheblich reduziert worden. Die Schlösserverwaltung hat ein schönes Angebot zur Verfügung gestellt: man kann einige Schlösser, darunter eben auch Schloss Linderhof im Rahmen der Initiative „Bayern 3D – Heimat Digital“ virtuell ansehen. Ganz allein. Das hätte dem Bauherrn, Ludwig II. von Bayern, gefallen. Mit ziemlicher Sicherheit hätte ihm auch das bereits im April 2018 erschienene Buch von Marcus Spangenberg gefallen: „Linderhof: Erbautes und Erträumtes im Gebirge“.
Autor: Marcus Spangenberg
Titel: Linderhof: Erbautes und Erträumtes im Gebirge
Verlag: Pustet, F (24. April 2018)
Taschenbuch: 128 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3791728040
ISBN-13: 978-3791728049
In insgesamt 15 Kapiteln stellt Marcus Spangenberg Bauten und Projekte rund um Schloss Linderhof vor. Der Autor hat schon zahlreiche Publikationen rund um König Ludwig II. von Bayern verfasst und gilt zu Recht als einer der besten Kenner Ludwigs und seiner Schlösser. Dem Erbauer bzw. geistigen Schöpfer der in dem Buch vorgestellten Objekte hätte das Kompendium der gebauten, geplanten und auch der wieder abgerissenen Bauwerke ganz sicher gefallen. Man kann sich ganz in die Szenerien fallen lassen. Allein: es fehlt die Haptik. Ja, man braucht schon ein gewisses Maß an Fantasie, um in Ludwig und seine Vorstellungen (sic!) zu versinken. Wenn also das Reisen in letzter Zeit mit Einschränkungen verbunden war (und wahrscheinlich wird dies auch noch eine Weile so bleiben), so liegt hier umfangreiches Material vor, um sich entsprechend vorzubereiten, wenn dann wieder Reisen und Besichtigungen möglich sind. Der Autor begleitet uns in die Gedankenwelt Ludwigs; jedes Kapitel ist ein Ausflug in seine virtuelle Welt. Dazu gibt es viele Hintergrundinformationen, Fakten und Interpretationen – und vor allem viel Bildmaterial. Das vorliegende Buch nimmt uns also mit in die ästhetische Welt Ludwigs und die demonstrative wie geheimnisvolle Pracht seiner Bauten. Das Buch heißt zwar „Linderhof“, bezieht sich aber auf die ganze Umgebung, vom Graswangtal bis Tirol. Über einige Objekte gibt es bereits Literatur, aber hier sind erstmals Informationen und Bilder von Ludwigs „lost and hidden places“ in einem handlichen Format zusammengestellt. Was wäre das für ein Erlebnispark geworden, hätte Ludwig seine Projekte allein hier fertigstellen können? Es wäre eine fantastische Reise durch Zeit und Raum, Geschichte und Kunst, durch verschiedenste Epochen und Regionen geworden.
Das ästhetische Empfinden wandelt sich immer wieder; wer heute die Bauten und deren Ausstattung aus der Zeit des Historismus‘ betrachtet, empfindet dies häufig als völlig überladenen Kitsch. Man hat Ludwig aber schon zu Lebzeiten Realitätsverweigerung unterstellt und seine Bauten nicht ernst genommen. Seine Schöpfungen sollten die Realität nur bis zu einem gewissen Grad ersetzen. Spangenberg setzt zu Recht in seinem Vorwort als den Anfang aller Projekte Ludwigs die „Symbole für Herrschaft und Königtum“. Der in seinem Buch vorgestellte „Themenpark“ ist ein „herausragendes Kulturphänomen des 19. Jahrhunderts“ (Seite 5) und bietet dem geistigen Schöpfer die Möglichkeit, „innerhalb eines kurzen Zeitraums vielfältige Reiseziele“ zu erreichen. Der Autor stellt gleich zu Beginn klar, dass in den Bauwerken „keine Staatshandlungen vorgesehen“ waren, es sind also keine Repräsentationsbauten. Noch wichtiger sind aber die Argumente, dass der König „seine Amtsgeschäfte (…) bis zu seiner Absetzung im Juni 1886 gewissenhaft erledigt hat“ und, dass er „exklusiv für sich selbst (und von seinem privaten Vermögen) baute“. [Leider wird das Gegenteil bis heute immer wieder gerne fälschlicherweise behauptet] Dies vorweggeschickt, kann sich der Leser auf die „Wanderung“ zu den vorgestellten Orten und Objekten begeben.
Schloss Linderhof und die Projekte
Im ersten umfangreichen Kapitel beschreibt der Autor das Zentrum der im Buch vorgestellten Objekte. Schloss Linderhof, „ein Juwel, das in seiner Art einzig ist“ (Zitat nach Ludwig 1868). Das Schloss ist, wie im Grunde alle Projekte Ludwigs, nicht vollendet worden – das heutige Schlafzimmer wurde später nur vereinfacht fertiggestellt. Wie alle Bauten Ludwigs steht auch Linderhof für die Beständigkeit im Unbeständigen. Stets musste etwas verändert, abgerissen, umgebaut werden. Fast alle Projekte waren Baustellen; eine schöne Herausforderung für Psychologen. Handelt es sich hier um Ersatzhandlungen? Das Schloss war eines der Lieblingsorte Ludwigs, bereits 1868 begann er mit den Umbauten und hatte noch viele Pläne mit der anfangs sehr bescheidenen Behausung. 1874 wurde das alte Königshäuschen, das schon der Vater, Maximilian II. Joseph, 1848 als „Jäger- oder Königshäuschen“ umbauen ließ, an eine andere Stelle versetzt und Linderhof außen in seiner endgültigen Form verwirklicht. Wie bei jedem seiner Projekte gibt es stets einen Bezug zu einer Meta-Ebene, die hier fassbar wird. Bei Linderhof, das im Stil des Rokoko einheitlich ausgestattet ist, ist es der Bezug des Wittelsbachers zu den französischen Herrschern und deren Hauptschloss Versailles.
Schloss Linderhof ist hier nicht nur das größte Projekt, sondern auch das Zentrum, von dem aus seine Touren starteten und man es Ludwig heute nachahmen kann. Aber was war zuerst hier? Die Linde oder die Familie Linder? Kapitel um Kapitel erfährt der Leser mehr über das Umfeld Ludwigs und seiner Bauten in dieser Gegend.
Überblick der Projekte
Hier ein Überblick der im Buch vorgestellten Projekte, deren Reihenfolge sich bestimmt nach der zeitlichen Abfolge der Erbauung bzw. Planung bestimmt, so dass sich die Entwicklung am besten nachvollziehen lässt, was z. B. einem Bauwerk an anderen Architekturen und Überlegungen vorausging:
Schloss Linderhof | gebaut | Seite 9 |
Die Linde | steht noch, inzwischen aber ohne Einbauten | Seite 19 |
Kapelle | steht, sollte damals umgebaut werden | Seite 23 |
Maurischer Kiosk | steht im Schlosspark | Seite 27 |
Arabischer Pavillon | war geplant | Seite 41 |
Theater | war geplant | Seite 43 |
Venusgrotte | vorhanden, aber voraussichtlich bis 2024 in Renovierung | Seite 49 |
Hundinghütte | Original ist 1945 abgebrannt, Nachbau steht im Schlosspark | Seite 61 |
Einsiedelei | Original ist verfallen, Nachbau steht im Schlosspark | Seite 71 |
Kubba | war geplant | Seite 79 |
Marokkanisches Haus | steht am Parkeingang (nicht ursprünglicher Standort) | Seite 83 |
Byzantinische Paläste | waren geplant | Seite 91 |
Hubertuspavillon | wurde im Rohbau fertiggestellt, dann aber abgerissen | Seite 99 |
Chinesischer Palast | war geplant | Seite 109 |
Fernstein und Berghütten | (Zimmer) nicht mehr vorhanden | Seite 115 |
„Indien“ | war geplant | Seite 120 |
Das Nachwort
Im Nachwort schließlich führt Spangenberg aus, dass man ja durchaus seinen Garten mit Pergola oder Gartenzwerg gestalten und einrichten kann und dies natürlich die Haltung und die Persönlichkeit des Nutzers spiegelt. Im Falle des damaligen bayerischen Königs aber bestätigt er, „dass im Süden Bayerns einige der bedeutendsten Bauten des Historismus in einer Art ‚individuellem Themenpark‘ verdichtet sind“. Alle Bauten haben eine Funktion als Stimmungsträger in der Gedankenwelt des Erbauers. „Ludwig II. war Regisseur, Schauspieler und Zuschauer in einer Person“. Seit August 1886 sind die Schlösser Ludwig II. für Besucher geöffnet und haben sich immer mehr mit musealer Nutzung vom eigentlichen Zweck entfremdet, vieles ist längst verloren. „Der Autor“, so schreibt Spangenberg abschließend, „hat versucht, die Wirklichkeit hinter dem Nebulösen zu entdecken.“
Eine klare Empfehlung
Nach Spangenberg können „die Linderhofer Bauten als Koordinaten und die Landschaft zwischen Ettal und dem Plansee (…) als Koordinatensystem des Lebens Ludwigs II. gelten, wenn nicht sogar als Überlebensstrategie in einer Welt, mit der er weder als Mensch noch als König zurechtkam“. Tatsächlich halte ich das kleine Büchlein mit seinem großen Inhalt für einen Meilenstein in der Bibliografie zu Ludwig II. An einigen Stellen hätte ich mir mehr Bilder und weitere Ausführungen zu den Projekten und den persönlichen Bezug gewünscht. Allerdings waren wohl die Seitenzahlen begrenzt und vorher vom Verlag festgelegt. Die Texte sind klar und angenehm zu lesen; die Informationen sind solide recherchiert, wie man es von Spangenberg gewohnt ist. Vielleicht gibt es die Möglichkeit, ausführlicher und umfangreicher an einigen Stellen mit einer Neuauflage nachzuliefern. Die schöne und wertvolle Publikation regt (hoffentlich) bei dem ein oder anderen Leser zu eigenen weiteren Nachforschungen an, zumal bei jeder Gelegenheit eine kleine lustige Anekdote beschrieben ist, die dann auch einen emotionalen Zugang möglich macht. Leider ist die Karte auf Seite 122/123 sehr klein geraten, so dass man die Standorte nicht finden wird – vielleicht ist es aber auch gut so, um „die Ruhe des Waldes und der Natur zu wahren“ (Seite 99). Ein Literaturverzeichnis und eine Zeittafel von 1842 bis 2017 runden den Anhang ab.
Weiterführende Links:
Website des Autors mit weiterführenden Texten und Terminen zu Führungen
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Bayerische Schlösserverwaltung Service Bayern 3D – Heimat Digital